Kloster-schmerz
von matthias kempendorf
Die Texte sind entstanden Anfang September 2008 während seines Aufenthalts in der Schmerzklinik Kiel.
vorweg
Schmerz und Schmerz sind schwer zu vergleichen.
Das ist schon so bei den verschiedenen Schmerzen
eines Menschen, noch viel mehr aber bei den Schmerzen
verschiedener Menschen.
Dies soll der Versuch sein, Einblick zu geben in die
Innenwelt des Cluster-Kopfschmerzes für Menschen,
die diesen Schmerz nicht kennen.
Möge er Menschen, die an diesen Schmerzen leiden,
helfen, sich in den Worten zum Teil zu entdecken
oder wieder zu finden.
Das Grausame am Cluster-Kopfschmerz ist die
Unbeschreibbarkeit und die Nicht-Kommunizierbarkeit,
die Einsamkeit, die dieser Schmerz erzeugt.
Weil dieser Schmerz von mir anders erlebt wird als
andere Schmerzen, scheint mir auch angemessen,
eine andere sprachliche Form zu suchen: mehr
bildhaft, assoziativ.
Und weil dieser Schmerz auch andere Regeln kennt,
schreibe ich über ihn nach anderen Regeln.
einfühlen
gut einfühlen
kann ich mich
in menschen
und ihre leiden
überhaupt nicht einfühlen
kann ich mich
in menschen
ohne leiden
schmerz
verbindet
schmerz
trennt
begriff
keinen begriff
von diesem schmerz
macht sich
mein vaterland
kein wort
für diesen schmerz
kennt
meine muttersprache
falls ich einmal
gefragt werden würde
nach dem
passenden wort
oder begriff
für diesen schmerz
schlüge ich vor:
kloster-schmerz
die regeln des schmerzes
sind vor dir da
und du bestimmst sie nicht mit
dieser schmerz macht
einsam vor gott
und einsam vor der welt
dieser schmerz ist eine
einübung ins sterben
dieser schmerz macht
- bei denen, die es vorher lernten -
das beten zur gewohnheit
am ende
macht dieser schmerz
still
kloster-schmerz
namen geben
ich hatte keinen namen
für meinen schmerz
das war ein
zusätzlicher
grausamer effekt
erst als ich von der existenz
des cluster-kopschmerzes erfuhr
konnte ich
über ihn sprechen
ich weinte und weinte
bei der selbstdiagnose
vor schrecken
und angenommensein
jetzt will ich es sein
der meinem schmerz
den namen gibt:
schmerz,
ich nenne dich
kloster-schmerz
schmerzliga
die schmerzen verschiedener menschen
lassen sich nicht vergleichen
auch bei den schmerzen eines menschen
ist es schon schwer vergleiche zu ziehen
würde ich es bei mir versuchen
dann würden meine bisherigen erfahrungen
verbrennungen hexenschüsse
entzündete schulter verdrehtes knie
und gequetschter arm
nahelegen
sie in etwa gleich hoch anzusetzen
der kloster-schmerz
spielt nach meiner erfahrung
in einer ganz anderen liga
die einen schmerzen
lassen mich sein
ein mensch
mit schmerz
der andere schmerz
läßt mich sein
ein schmerz
ohne mensch
reizschwelle
weil der eine schmerz
so vernichtend
und stark ist
habe ich
überhaupt
nicht mehr
wahrgenommen,
wo es mir
sonst
wehtut
fixiert
auf das
messer im auge
nahm ich nicht wahr
meinen starren blick
immer im kampf
mit gott oder teufel
hab ich
die engel
nicht mehr
gesehen
typische handbewegung
der ritter
der geheimen
geschwisterschaft
des schmerzes
hebt die hand
und legt sie
bergend
auf den augapfel,
damit die
speerspitze
nicht austritt
vertraute geste
vertraut und ein teil
meiner selbst geworden
ist die handbewegung
der geschwisterschaft
des schmerzes
die hand auf dem auge
war wie
eine hand
auf dem abgrund
eine hand
auf dem höllenkrater
eine hand
auf dem großen nichts
eine hand
vor der großen tiefe
in schmerzfreien
stunden und tagen
ertappe ich mich
in einsamen momenten
bei der vertrauten geste
kloster-käfig
plötzlich
ein käfig
um mich herum
ausgegrenzt bin ich
abgesondert von den anderen
kann nicht mehr
kontakt aufnehmen
und die anderen bekommen
nur durch gitter
kontakt zu mir
und ich fange an
im käfig
auf und ab zu trotten
hab kein ziel
aber kann auch nicht
stehen bleiben
muß in bewegung sein
auf und ab
im käfig
nicht stehenbleiben
der schmerz kommt
ich will ihn nicht
ins haus lassen
ich gehe nach draußen
mit ihm
mach mich auf den weg
egal wohin
hauptsache gehen
nicht stehenbleiben
nichts sehen
die hand vorm auge
und das auge
zusätzlich geschlossen
ich weiß nicht mehr
wie man geht
aber es geht
in mir
nur nicht
stehenbleiben
einäugig fahren
als kind
war es eine freude
einhändig radfahren zu können
später konnte ich
einhändig autofahren
die andere hand brauchte ich
für das auge
so fuhr ich
einäugig
einhändig
zuhause wußte ich
oft nicht mehr
wie ich zurückgekommen war
manchmal wußte ich
nicht einmal mehr
wie man
aussteigt
taumeln, torkeln
plötzlich
weiß ich nicht mehr
einfachste bewegungen
ich muß
nachdenken
wie man
ein glas wasser
einschenkt
und ich muß
mir genau
vornehmen
es zu trinken
nichts geht mehr
automatisch
ich verliere
die übersicht
weiß nicht
was ich eigentlich will
ich taumel
und torkel
durch die welt
klosterzelle
hineingestoßen
in die zelle
es ist heiß
und ich friere
es ist kalt
und ich schwitze
wasser und brot
innerlich
explodiere
ich und bin dabei
unfähig
mich zu bewegen
ich krümme mich
wie im mutterleib
ich muß nachdenken
um bewegungen
ausführen zu können
von den anderen
durch die zellenwand getrennt
ich bin allein
ohne mich
klosterzellen
der schmerz hat mich
in viele zellen gestoßen
viele verschiedene
teppiche und decken
von freundinnen und freunden
harte fußböden
manches sofa
viele viele tische
für den ellenbogen
gästezimmer aller art
kinderzimmer
spielteppiche in bibliotheken
einsame hotelzimmer
toilettenkabinen und wieder
toilettenkabinen
wolldecken im dreck der raststätten
zelte
keller
dachböden
schuppen
ich pilgerte
von einem kloster zum anderen
und die welt wurde
meine zelle
wasser
in der letzten zeit
genieße ich es
heiß zu duschen
und das ganz lange
es ist so schön
wenn heißes wasser
um einen fließt
und es nicht
die eigenen
tränen sind
in den letzten jahren
habe ich mich
meist gefreut
wenn der regen kam
es war so schön
wenn der himmel
weinte
klosterbestie
der schmerz
raubt mir
alles menschliche
eine bestie
werde ich
gierig
schnaubend
stöhnend
brummend
schreiend
auf und ab
hin und her
laufend
blind
wild
selbstverletzend
kein
mensch
mehr
entwerdung
ein ziel der
mystischen versenkung
ist das
verlieren der eigenen person
das ich überwinden
darüber kann man
nachdenken
dem kann man
nachstreben
dafür kann man
verklärt schwärmen
den kloster-schmerz
könnte man beschreiben
als eine
weder ersehnte
noch herbeigeführte
entwerdung
erniedrigend
grausam
und letztlich
unbeschreibbar
entrückung
mysterinnen und mystiker
sprechen von
erlebnissen der entrückung
andere worte wären
entsetzung
entsetzen
ekstase
manche erleben die entrückung
unmittelbar
andere streben sie an
und provozieren sie
durch rituale, tanz
trommel und gesang
der kloster-schmerz
entrückt den leidenden vollständig
ohne eigenes wollen
oder die möglichkeit auszusteigen
eine andere form der wahrheit
ein abgrund
tut sich auf:
es gibt
kein leben
es gibt
keinen tod
es gibt
keinen gott
es gibt
keinen menschen
krankheitsgewinn
doch es gibt ihn auch
beim klosterschmerz
den krankheitsgewinn
beim manchmal
blitzartig
verklingendem schmerz
- wenn der gegner abläßt
- wenn man aufstehen kann
- wenn der schädel wieder heilt
- wenn der hals nicht mehr brennt
- wenn das ohr wieder angenäht ist
- wenn die haut geflickt
- wenn die zähne gerichtet
- wenn das auge wieder heil
dann gibt es einen
tiefen moment
des glücks
so tief
wie es sonst
vielleicht
nicht zu erfahren wäre
dieser moment
des glücks
kann ein bruchteil
einer sekunde
oder eine stunde dauern
das glück
hält sich
allerhöchstens
bis zum
nächsten anfall
bis zur nächsten
angst
vor dem
nächsten anfall
es kann der
moment des glücks
aber auch beendet werden
durch das
plötzliche gefühl
des tiefsten
unglücks
des abgrundes
von verzweiflung
nie geboren
der schmerz
läßt den wunsch
wachsen
nach
sterben
tod
ruhe
in wahrheit
war es aber
wohl der
noch schlimmere
wunsch
nie geboren
zu sein
weit grausamer
als der wunsch
nach erlösung
im tod
ist der wunsch
nie gelebt
zu haben
das übel suchen
vielleicht ist was
mit den augen
mit dem ohr
mit den nebenhöhlen
mit den zähnen
mit dem hals
mit dem nacken
vielleicht
ein tumor im gehirn
vielleicht vertrage ich nicht
die arbeit
die freizeit
die sonne
den mond
den wind
den wetterwechsel
die jahreszeiten
die hitze
die kälte
schwimmen
spazierengehen
reisen
meine mutter
meinen vater
meine kinder
meine frau
meinen chef
meine kollegen
meine freunde
feste
feiern
besuch
vielleicht bekommen mir nicht
kaffee
alkohol
tee
saft
milch
schokolade
käse
kuchen
brötchen
weingummi
gewürze
knoblauch
fertiggerichte
essen im lokal
essen in kantinen
gerüche
parfums
vielleicht habe ich
zu lange geschlafen
zu wenig geschlafen
das falsche kissen
die falsche decke
das falsche bett
was falsches gegessen
oder getrunken
zuviel gearbeitet
oder zuwenig
zuviel sport getrieben
oder zuwenig
nicht genug wasser getrunken
nicht rechtzeitig gegessen
zu lange ferngesehen
zu lange am computer gearbeitet
den kopf falsch gehalten
den falschen stuhl
das falsche sofa
den falschen tisch
das falsche auto
vielleicht sollte ich
vielleicht müßte ich
vielleicht mach ich alles falsch
vielleicht lebe ich falsch
vielleicht ist es falsch
zu leben
gespräch über den schmerz
alle, die mich behandeln
sprechen von
meinen schmerzen
als dem gräßlichsten
dem schrecklichsten
was einem menschen
widerfahren kann
etwas
das den menschen zerstört
ich bin erschrocken
darüber
und wundere mich
so habe ich es
am ende
gar nicht mehr
wahrgenommen
so zerstört war ich
alle, die mich behandeln
fragen mich
wie ich das
so lange
aushalten konnte
sie wundern sich
und staunen
und schütteln den kopf
ich frage mich
das auch
eine frage kommt bei mir
allerdings noch hinzu
ich frage mich
wie die anderen
mich
so lange
aushalten konnten
ich wundere mich
und staune
und schüttle den kopf
Mit freundlicher Genehmigung von Matthias Kempendorf
matthias()kempendorf!com